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Ergänzende Überlegungen zu Dirk von Gehlens Beitrag und den Kriterien des Reporterpreises

Interaktivität und andere Optionen in der Webreportage

goa_hippy_tribe.jpg

Dirk von Gehlen hat gestern in einem Posting mehr Interaktivität von der Webreportage gefordert. Mit seinem neuen Buchprojekt "Eine neue Version ist verfügbar" probiert er ja selbst gerade die interaktive Erstellung eines Textes mit Hilfe der Leser aus. Es ist nicht die erste Idee von Dirk, die mich begeistert und inspiriert. Aber immer, wenn ich Dirk treffe oder lese, merke ich, dass ich ganz anders an die Sachen herangehe und daher haben wir immer wunderbare Diskussionen. Als Antwort auf seinen Artikel nun also meine Ergänzung mit einigen Einsprüchen, denn seine Forderungen an die Webreportage sind mir begrifflich noch zu ungenau und in manchen Punkten zu einengend für den Webreporter. Im Kern habe ich versucht, behutsam Struktur in seine Forderungen zu bringen, in der Hoffnung, dass Dirk dieser fünfteiligen Gliederung zustimmt.

  1. Die Hauptidee von Dirk und sicher die große, geniale Idee hinter seinem Buchprojekt ist es, die Abgeschlossenheit der alten Medien in Frage zu stellen und diese in die fluiden Formen von Wikipedia oder Software zu überführen, die wir aus dem Web kennen. Diese prozesshafte, endlose Versionierung von Beiträgen ist aber nicht zu werwechseln mit dem wechselseitigen Bezug von Texten, der in der Literaturwissenschaft auch als Intertextualität bekannt ist und keine exklusive Eigenschaft des Webs darstellt. Beide Punkte können sich sogar ausschließen: dass z.B. ein Leser erkennt, dass mein Beitrag auf Dirks antwortet, setzt für beide Beiträge voraus, dass sie ab jetzt nicht mehr zu stark abgeändert werden.
  2. Die crowdgestütze Recherche/Finanzierung und die Interaktion zwischen Leser und Autor bedeutet nicht, dass am Schluss eine interaktive Reportage steht. Diese Optionen kann mit der nächsten zusammenfallen, aber es ist in manchen Fällen sicher sinnvoll, die interaktive Recherche in eine oder mehrere abgeschlossene und unverzweigte Beiträge zu überführen.
  3. Eine interaktive Narration wie bei Voyage au bout du charbon bedeutet, dass der Rezipient an verschiedenen Stellen der Reportage entscheidet, welchen Weg er einschlagen will, welchem Teil er als nächstes folgen will. Diese Interaktivität darf nicht mit einer Leserbeteiligung bei der Projektplanung oder mit einem unabgeschlossenem Projekt wie Wikipedia verwechselt werden. voyage_charbon.jpg
    Interaktivität in der Erzählung ist bereits ohne die anderen Punkte von Dirk Herausforderung genug: Wir müssen die Geschichte so konstruieren, dass der Leser die Entscheidungen über den Fortgang der Reportage treffen will und auch sinnvoll treffen kann. Ich halte das für das dringendste Experimentierfeld, vor allen anderen Forderungen von Dirk: Dass dieses zwanzig Jahre alte Problem der interaktiven Reportage endlich von einem genialen Pionierjournalisten gelöst wird.
    Wichtig bei diesem Punkt: Bitte nicht jede Form der multimedialen Menüführung wie z.B. Goa Hippy Tribe als interaktive Reportage bezeichnen. Hier können nur mehrere für sich stehende Text- oder Multimediaerzählungen in einem Menü ausgewählt werden. Nach dieser Logik wäre jede Onlineseite, jede Zeitung, jede Suchmaschine und jedes Buchgeschäft ein interaktives Medium. Es wäre toll, wenn man den Begriff der Interaktivität für solche Dossier-Formate nicht verwenden würde.
  4. Dirk spricht davon, dass das Netz die Reportage um ihren Verfasser erweitert oder erweitern sollte. Diese Möglichkeit, den Autor, sozusagen eine Kopie von ihm, sein mediales Ich, in der Reportage mit spezifischen Funktionen für die Narration einzusetzen, ist natürlich auch ohne Interaktivität möglich und zieht sich durch alle Medien, vom Video über den Text zu Audio-Slideshow. Der New Journalism aus den 80ern oder die Dokumentarfilme von Michael Moore sind hier gute Beispiele. Die Entscheidung, wer die Reportage an den Leser vermittelt, ein Off-Sprecher, ein Journalist/Fotograf, der durch ein "Ich" in seiner eigenen Erzählung als Vermittler auftritt oder der Protagonist selbst, ist immer eine Frage des Inhalts, der vermittelt werden soll. Es macht keinen Sinn, ein Sachthema, bei dem keine subjektiven Eindrücke geschildert werden müssen, mit einem Ich-Erzähler zu vermitteln. Auf der anderen Seite finde ich es manchmal überholt, wenn Journalisten ihr Ich mühsam hinter einer dritten Person verbergen, obwohl ihre persönlichen Erfahrungen etwas zur Geschichte beitragen können. Gerade bei der Textreportage ist diese Gattungsregel schon zur Obsession geworden. Auch diese Frage der Vermittlung der Reportage sollte man also von der Interaktivität trennen.
  5. Dirk nennt an mehreren Stellen die Live-Reportage, z.B. über Twitter. Auch diese Option hat nichts mit Interaktivität zu tun und sollte wohl zur aktuellen Berichterstattung eingesetzt werde. Was in diesem Zusammenhang generell nicht funktioniert ist die Idee, Wirklichkeit möglichst unverfälscht aufzuzeichnen, egal ob live oder nicht. Wir können keine Wirklichkeit aufzeichnen, ohne diese zu zerlegen. Deshalb sollte jeder Form der Aufzeichnung immer die Überlegung vorausgehen, wie die Wirklichkeit geordnet, fokussiert und gegebenenfalls narrativ konstruiert in ein Zeichensystem überführt werden kann. Ansonsten entsteht nur chaotischer Zeichenmüll für die nächste Transmediale.

Alle Optionen sind übrigens nicht erst seit dem Web möglich, auch wenn sie dort nun viel einfacher und breiter genutzt werden können. Eine fluide Form waren/sind z.B. die Loseblatt-Lexikas vom Munzinger-Verlag, Leser-Autor-Interaktion gab es auch schon live oder per Telefon, interaktive Geschichten in Form sogenannter Spielbücher, Ich-Erzähler im Film und Live-Reportagen im Radio und Fernsehen, um einige Beispiele zu nennen.

Wir können nun nach den Regeln der Kombinatorik eine Liste aus allen Optionen machen und haben 25 teilweise innovative Formate in der Webreportage, die wir in den nächsten Jahren abarbeiten können. Einige Kombinationen hatte Dirk sicher im Kopf, als er seinen Beitrag geschrieben hat, andere erschließt man vielleicht nur, wenn man sich diese Liste erstellt. Wobei nicht nicht klar ist, ob alle Fälle Sinn machen, z.B. die interaktive Live-Reportage, die ständig im Fluss ist.
alma_arte.jpg

Außerdem fehlen natürlich viele Optionen, z.B. gibt es Experimente wie die Webdoku Alma, bei der der Leser interaktiv das Medium (in diesem Fall die Bildebene) ändert, aber nicht den Erzählstrang. Oder Wechsel zwischen den Medien (z.B. vom Text zum Video), bei denen der Ich-Erzähler seine Vermittlung über den Bruch hinweg fortführt.
Entscheidend sollte am Ende aber immer sein, dass die Geschichte in der perfektesten Form beim Rezipienten ankommt, um seine Botschaft zu vermitteln. Das wird für mich das oberste Kriterium sein, wenn ich mit Kollegen am 3. Dezember die zehn Nominierungen bewerte. Ich möchte keiner Form einen Vorrang einräumen und damit eine ideologische Abgrenzung zu anderen Formaten machen, die obendrein noch von einer erwünschten Abgrenzung zu anderen Medienkanälen wie dem Fernsehen diktiert wäre. Und eine gute Geschichte, ob multimedial oder nicht, funktioniert sicher und in bewährter Weise auch ohne diese Optionen. Dass bisher viel zu wenig mit diesen Optionen experimentiert wurde, ist dagegen offensichtlich und bekräftigt mich in einer ganze anderen Vision, die ich bereits vor Jahren dem Reporterforum vorgeschlagen habe: Nämlich dass wir eine Art Think-Tank benötigen, in dem einige Journalisten in Zusammenarbeit mit deutschen Redaktionen alle diese neuen Optionen (und noch mehr) austesten und entscheiden, was in der Praxis geht und was nicht. Denn was bisher von Onlinejournalisten, (z.B. auch in der Audio-Slideshow) gemacht wird, ist aus Zeitnot fast immer nur das Nachahmen von etablierten, erfolgreichen Formaten. Was wir jetzt brauchen, ist Formatkreativität und ich hoffe, dass ich mit diesem Beitrag ein wenig dazu beigetragen habe.

Veröffentlicht am 03. Nov. 2012. in [/Journalismus/Theorie] Kommentare: 1

Giuseppe Paletta wrote at 2012-12-21 14:41:

Diese Entwicklung dank des Internets finde ich als Journalist natürlich sehr spannend. Aber nüchtern betrachtet, sollten man sich auch mit dem Aspekt der passiven Zuschauer beschäftigen. Wir wurden ja die vergangenen 50 Jahre durch Fernsehen/Radio/Zeitung nur zum passiven Nachrichtenkonsum sozialisiert. Jetzt auf einem Schlag soll das Publikum nicht mehr nur Publikum sein, sondern mit den Journalisten interagieren, sie gar bei der Reportage unterstützen. Auch hier braucht es meiner Meinung nach noch theoretische Überlegungen, wie man diesen Prozess der Aktivierung des Publikums oder der Hilfsjournalisten, beschleunigen kann.




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