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Eine Besprechung von Florian Thalhofers interaktivem Projekt "Planet Galata"

Interaktiv am Rezipienten vorbei

florian_thalhofer.jpg Unter Journalisten ist Florian Thalhofer bisher wenig bekannt, obwohl er seit über zehn Jahren mit interaktiven Medien experimentiert und wie kaum ein anderer Künstler in diesem Bereich inhaltliche und technische Entwicklungen vorangebracht hat, darunter z.B. eine eigene Produktions-Software namens Korsakow. Sein letztes Projekt, Planet Galata, ist ein Portrait über die Menschen auf der Galata-Brücke in Istanbul, das er zusammen mit der türkischen Filmemacherin Berke Baş erstellt hat. Als ich diesen interaktiven Film vor einigen Monaten zum ersten Mal sah, war ich aus journalistischer Perspektive enttäuscht: Der Film ist ungewohnt sperrig zu konsumieren, man muss sich mehr oder weniger zufällig durch die zahlreichen einzelnen Abschnitte und Takes klicken. Als durchschnittlicher Rezipient verlor ich wegen dem fehlenden Spannungsaufbau schnell das Interesse am Fortgang der Geschichte. Irritierend empfand ich auch die biographische Details von Thalhofer, die mitten im Werk auftauchen und die in keiner Verbindung zum Thema standen. Hier zeigte sich ebenfalls die künstlerische Ausrichtung des Werks.
planet_galata.jpg

Vor einigen Tagen hatte ich die Möglichkeit, Thalhofer in München kennenzulernen, mit ihm meine Vorbehalte zu diskutieren und so eine neue Perspektive auf seine Arbeit zu gewinnen.
Dabei wurde schnell klar, dass Thalhofer sich gar nicht als Journalist versteht und auch gar kein Interesse hat, dem Rezipienten eine angenehme Rezepetion zu ermöglichen. Ich hatte eher den Eindruck, dass er sich nur seiner eigenen Leidenschaft als Aufzeichner von Wirklichkeit verpflichtet fühlt. Diese Leidenschaft hat ihn über die Jahre zum interkativen Film seiner Prägung geführt. Die Interaktivität erlaubt es ihm, etwas Aufgezeichnetes an den Rezipienten zu geben, ohne ihm eine lineare erzählerische Struktur mitzugeben, anders als beim normalen Film, den er gerade dafür kritisiert: Linear film lies, schreibt er, weil er die Reduktion kritisiert, die mit einem festen Spannungsaufbau einhergeht. Dass der Rezipient den Film durchaus linear konsumiert, nur eben in einer mehr oder weniger zufälligen Reihenfolge, steht für ihn auch nicht im Vordergrund. Entsprechend auch die Wortwahl: Er bezeichnet seine Projekte fast duchgänging als "nichtlineare" Filme, weil er als Autor keine spezifische Linearität festlegt. Ich würde dagegen eher von interaktiven Filmen sprechen, weil mir die Wahlmöglichkeit des Rezipienten als entscheidendes Kriterium gilt.
Es lohnt sich, diese Wahlmöglichkeit genauer zu betrachten. Seine Software Korsakow erlaubt es, einzelne Filmabschnitte einem oder im Normalfall mehreren anderen Abschnitten zuzuordnen. Dadurch entsteht eine Art Mindmap, die den Film strukturiert und die beim Betrachten im Hintergrund arbeitet und die (in diesem Fall meist vier) zur Verfügung weiterführenden Abschnitte auswählt. Es ist also keineswegs so, dass die einzelnen Passagen zufällig angeordnet sind, sondern Thalhofer ordnet, wenn ich das richtig verstanden habe, nach abstrakten oder intuitiven Gemeinsamkeiten. Damit widerspricht er zwei älteren Traditionen: Zum einen geht es ihm nicht um eine möglichst weitgehende Auflösung der auktorialen Ordnungsmacht, wie es in den 70er Jahren oft gefordert wurde und in den 90er Jahren auch vereinzelt umgesetzt wurde (z.B. in dieser ethnographischen CD-ROM über die Yanomami). Auch im heutigen Daten-Journalismus findet sich noch der alte Wunsch nach einer direkten, unstrukturierten Übergabe der gesammelten Informationen an den Rezipienten. Zum anderen wendet er sich aber auch ganz bewusst gegen alle durchgeplanten interaktiven Erzählformen, bei denen der Rezipient wissentlich Entscheidungen über den Verlauf der Geschichte treffen muss. Ein Beispiel für so eine Geschichte wäre Samuel Bollendorffs Voyage au bout du charbon. Während der Rezipient bei Bollendorff genug Informationen bekommt, um - als wäre er selbst der Journalist - zu entscheiden, wie die interaktive Reise weitergehen soll, finden sich bei Thalhofers Planet Galata keine solchen Hinweise. Seine frühen Experimente sind noch durchgeplante Erzählungen, so z.B. Small World von 1997. Aber von diesen Formen hat er sich entfernt, wie er selbst sagt, weil er diese Planung als Lüge empfindet. Dadurch entstand für mich das Dilemma, dass ich an keinem Punkt wusste, welchen Beitrag ich bei Planet Galata als nächstes wählen soll. Vielleicht können andere Rezipienten dieser intuitiven Auswahl etwas abgewinnen. Aber ich denke, dass Interaktivtät bei journalistischen Projekten nur dann Sinn macht, wenn der Rezipient erstens die Wahlmöglichkeit überhaupt benötigt und zweitens genug Informationen hat, um diese Wahl dann nach seinen Vorlieben zu treffen.
Der zweite oben angesprochene Kritikpunkt betrifft die persönlichen Details, die der Autor an einem Punkt der Geschichte beisteuert. Ich bin ein großer Freund des Ich-Erzählers und Thalhofer setzt ihn in einigen Abschnitten schön ein, aber was Thalhofer hier macht, bringt die Erzählperspektive in Verruf: Der Abschnitt führt mich vom eigentlichen Thema, der Galata-Brücke, weg und fokussiert den Autor selbst. Diese Zentrierung von Florian Thalhofer auf sich und seine Arbeit fällt auch außerhalb des Projekts auf, so etwa die ironisch übertriebene Selbstdarstellung des Korsakow-Systems auf verschiedenen Websites. Zitat: "ATTENTION: EXTENSIVE USE OF THE KORSAKOW SOFTWARE MIGHT CHANGE YOUR PERCEPTION OF THE WORLD. But don't be afraid: Korsakow is not a religion." Mir kam es so vor, dass diese Selbstdarstellung und auch diese Passagen eine perfekt zugeschnittene Antwort auf die Bedingungen des Kunstbetriebs sind, auch wenn Thalhofer das abstritt. Ich hätte mir hingegen statt dieser spielerischen oder ironisierenden Selbstdarstellung mehr sachliche Selbstkritik gewünscht, so dass auch klar wird, dass das Format sich in einem außerordentlichen Experimentstatus befindet und gegenüber anderen Medienformen durchaus Nachteile hat. Außerdem verhindern sie, zusätzlich zu der Sperrigkeit des fordernden Formats, die Wahrscheinlichkeit, dass der Onlinejournalismus Thalhofers Projekte, seine Ideen und seine Software aufgreift.
Das finde ich schade, da seine Filme durchaus sehr ambitioniert gedreht sind und er gut beobachten kann. Sein Film erzeugt eine sehr differenzierte, polyvalente und uneindeutige Sicht auf die Galata-Brücke, die ich als sehr angenehm empfunden habe. Nach dem Gespräch blieb ich also mit gemischten Gefühlen zurück: Einerseits mit großer Bewunderung für den leidenschaftlichen und offensichtlich völlig unbeirrbaren Einsatz von Thalhofer für seine spezielle Idee vom nichtlinearen Erzählen. Andererseits mit großem Bedauern, dass man Thalhofers Projekte und sein Korsakow-System wegen der völlig fehlenden Ausrichtung am Rezipienten nicht als Vorbild für interaktiven Multimedia-Journalismus verwenden kann, sondern höchstens als Inspiration. Denn dass sich der Rezipient an diese Filme gewöhnt, wie Thalhofer meint, daran glaube ich nicht.

Fotos: Juliane Henrich / Florian Thalhofer

Veröffentlicht am 12. Feb. 2012. in [/Journalismus/Multimedia-Reportagen] Kommentare: 1

Christian wrote at 2012-05-01 15:50:

Das kritisierte Prinzip erinnert mich an Youtube, die das im Grunde sehr erfolgreich machen: Man sieht ein kleines Filmchen, und bekommt weitere vorgeschlagen die irgendwas damit zu tun haben könnten. Wer schon mal viel Zeit damit verbracht hat, weiss, wie hypnotisch das ist. Die Frage wäre also: Was fehlt, damit das Prinzip erfolgreich ist? Ich vermute, die Vielfalt in der Auswahl der möglichen nächsten Filme, und eine Rückkoppelung des Klickverhaltens, die quasi die Schwarmintelligenz die Reihenfolge für alle nachfolgenden Rezipienten vorschlagen würde.




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